Mit Fassungslosigkeit habe ich die Äußerungen des sächsischen Innenministers Armin Schuster (CDU) zu den Ereignissen um die Polizeieinsätze am 02./03.06.2023 in Leipzig zur Kenntnis genommen.
Ein Innenminister, der „die linke Szene“ mit den Mördern des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) vergleicht bzw. mit der Roten Armee Fraktion (RAF), zeigt nicht nur ein eklatant fehlendes Politik- und Geschichtsverständnis (https://www.tag24.de/leipzig/leipziger-krawalle-schuster-vergleicht-linke-szene-mit-den-moerdern-von-nsu-und-raf-2856409).
Zum einen setzt Innenminister Schuster hier eine heterogene politische Szene mit den als kriminelle Vereinigung verurteilten Personen um Lina E. gleich. Erschütternd ist jedoch, dass Schuster deren vorgeworfene Taten mit der neonazistischen terroristischen Vereinigung NSU vergleicht, die zwischen 2000 und 2007 wahllos neun Menschen aus rassistischen Motiven, sowie eine Polizistin ermordeten, 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge (Nürnberg 1999, Köln 2001 und 2004) mit zahlreichen Verletzten und 15 Raubüberfälle verübt hatten. Bezeichnender Weise sind bis heute die wenigsten, der auf 100-200 Personen geschätzten Unterstützer*innen dafür in irgendeiner Form belangt worden, unter denen sich auch mehrere Personen befanden, die vom Verfassungsschutz bezahlt wurden. Stattdessen hatten Beamte des Verfassungsschutz Akten vernichtet und damit die Aufklärung und Strafverfolgung mutmaßlich zu verhindern versucht (u.a. in Thüringen, Sachsen, Berlin).
Im Gegensatz dazu wurde den Personen um Lina E. vorgeworfen, gezielt Körperverletzungen gegen militante Neonazis verübt zu haben, die jeweils zahlreiche Straftaten und Körperverletzungen begangen hatten. Einige dieser Geschädigten sind auch aktuell wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bzw. in einer kriminellen Vereinigung angeklagt. Diese beiden Komplexe miteinander zu vergleichen bzw. diese sogar gleichzusetzen ist eine Verhöhnung der Opfer des NSU und deren Angehörigen. Hier zeigen sich die seit Jahren kritisierten „sächsischen Zustände“ und die Anwendung der wissenschaftlich längst widerlegten „Hufeisentheorie“. Bemerkenswert ist auch der verwendete Verweis auf untergetauchte Antifaschist*innen, wird doch seit Jahrzehnten immer wieder darauf hingewiesen, dass mehrere hundert, verurteilte und zur Festnahme ausgeschriebene Neonazis sich durch Untertauchen den Behörden entzogen haben.
Das derselbe Innenminister Schuster den Polizeieinsatz vom 03./04.06.2023 am Alexis-Schumann-Platz als gelungenes „Heimspiel“ bezeichnet, ist ebenfalls an Zynismus kaum zu übertreffen. Hier war es am Rande einer genehmigten Kundgebung (ursprünglich als Demonstration erlaubt) aus einer sehr kleinen Gruppe heraus zu einem Angriff auf Beamte gekommen. Bereits vor und während der Kundgebung war der gesamten Bereich weiträumig mit starken polizeilichen Kräften so abgeriegelt, dass Menschen zwar in den Bereich hinein- aber nicht mehr herausgelangen konnten. Nach diesem Angriff hatten sich die Teilnehmer*innen der Kundgebung in den westlichen Bereich der Karl-Liebknecht-Straße (zwischen Hardenberg- und Scharnhorststrasse) zurückgezogen, wo es zusätzlich zur Vermischung mit Passant*innen kam. Der nun folgende Polizeieinsatz lief völlig aus dem Ruder. Unter Einsatz von Gewalt und Pfefferspray wurden alle Personen (ca. 1000) eingekesselt, obwohl selbst Innenminister Schuster sagt, dass nur Teile davon „gewaltbereit“ gewesen seien. Dafür wurde per Lautsprecherdurchsage allen Gekesselten, darunter zahlreiche Minderjährige, die Eröffnung eines Strafverfahrens wegen schweren Landfriedensbruch und Angriff auf Vollstreckungsbeamte eröffnet. Gegen die eng zusammengepferchten Menschen kam es immer wieder zu Angriffen von Seiten der eingesetzten Beamten, so dass es zahlreiche (teilweise schwer) Verletzte gab. Mindestens eine Person musste in der Folge durch Rettungssanitäter sogar wiederbelebt werden. Den eingekesselten Menschen wurden durch die Beamten weder Wasser noch Essen ausgegeben, so dass mehrere Menschen kollabierten. Immer wieder wurden einzelne Personen mit Schmerzgriffen aus dem Kessel herausgeholt und zur Identitätsfeststellung gebracht. Eltern wurden nicht erlaubt, bei dieser Maßnahme dabei zu sein. Stattdessen berichten zahlreiche Minderjährige, dass ihnen durch die Beamten mit Taschenlampen in die Unterwäsche geleuchtet wurde oder sie auf der Wache, bereits entkleidet von Beamtinnen im Intimbereich angefasst wurden. Vielen Menschen wurden ihre Telefone beschlagnahmt, so dass auch Minderjährige und Jugendliche keinen Kontakt zu ihren Eltern aufnehmen konnten. Diese Maßnahme zog sich über 11 Stunden bis zum nächsten Morgen gegen 5:00 Uhr hin. Nur durch das Agieren von Demo- und Rettungssanitäter*innen, die Verletzte und Kollabierte betreuten, Wasser und Essen sowie Rettungsdecken verteilten, konnte vermutlich noch schlimmeres verhindert werden.
Einen solchen, völlig überzogenen und aus dem Ruder gelaufenen Einsatz als gelungen und als „Heimspiel“ zu bewerten zeigt zum einen, dass dieser Verlauf offenbar politisch gewollt war. Anderseits zeigt es, dass für Innenminister Schuster auch friedliche Demonstranten, sich antifaschistisch engagierende Menschen und selbst Passant*innen im Leipziger Süden zur – um in seiner Sprache zu bleiben- „gegnerischen Auswärtsmannschaft“ gehören und das wiederum könnte durchaus so gewertet werden, dass sich der sächsische Innenminister möglicherweise nicht mehr auf dem „gemeinsamen Spielfeld“ der demokratisch freiheitlichen Grundordnung befindet.
Unter den Personen auf der Kundgebung und später im Kessel befanden sich augenscheinlich auch verdeckt agierende und vermummte Beamte. Welchen Anteil diese an der Eskalation der Situation gespielt haben, sollte dringend aufgeklärt werden.